Eutopie
Maxime medizinischer Versorgung
Hinweis: In diesem Artikel können zusätzliche Informationen z.B. zu „struktureller Aufbau der medizinischen Versorgung“ angezeigt werden. Entsprechende Abschnitte sind mit einem „+“ gekennzeichnet.
Status quo
Einer der wichtigsten Ansatzpunkte in der Integration von Informationstechnologie im Gesundheitswesen stellt die Organisation dar. Für das Verständnis der Organisation ist jedoch ein grober Überblick über dessen strukturellen Aufbau notwendig.
Insgesamt waren im Jahr 2021 416.120 Ärztinnen und Ärzte an der medizinischen Versorgung in Deutschland beteiligt.3 Um eine koordinierte, konsequente und effiziente Versorgung zu ermöglichen, sind daher sinnvolle Systeme zur (I) Organisation, (II) Dokumentation, (III) Informationsaustausch, (IV) Qualitätssicherung und (V) medizinischer Forschung und Weiterentwicklung unabdingbar. Gemäß einer Umfrage des Marburger Bundes aus dem Jahr 2022 verbringen Ärztinnen und Ärzte zu 57 % ≥ 3 h pro Tag mit nicht-ärztlichen Tätigkeiten für administrative Tätigkeiten und um den Dokumentationsvorgaben zu genügen.4 Verschärft wird die Diskrepanz zwischen Bedarf an medizinisch-ärztlicher Tätigkeit und verfügbarer Zeit bzw. Kapazität durch den demographischen Wandel. Der simultane Anstieg des Versorgungsbedarfs und des mittleren Alters in der medizinischen Versorgung führt z.B. zu einem Mangel von ca. 11.000 Hausärztinnen und -ärzten im Jahr 2035.5 Zeitmangel stellt auch eine mögliche Ursache für die häufigsten Kritikpunkte von Patienten an ihre behandelnden Ärztinnen und Ärzte wie z.B. lange Wartezeiten, Mangel an Kommunikation und schneller Abfertigung dar.6 Daraus resultierende Kritik führt in Wechselwirkung ebenfalls zu einer weiteren Beeinträchtigung der Arbeitsatmoshpähre für die behandelnden Ärzte.7
Durch stetigen Progress der Rechenleistung, Datenspeicherung und Verfügbarkeit von IT-Systemen können heute immer komplexere Aufgaben gelöst, Daten effizient erfasst, sinnvoll ausgewertet und präsentiert werden. Der durchdachte Einsatz in der medizinischen Versorgung könnte wieder mehr Zeit für menschliches Miteinander zur Verfügung stellen – leider liegen Potentiale und Realität der Umsetzung in der modernen Medizin noch weit auseinander.
Ansatzpunkte
- Organisation
Für eine erfolgreiche medizinische Interaktion sind bestimmte örtliche und zeitliche Kriterien von großer Bedeutung. Diese gelten unabhängig von der spezifischen medizinischen Versorgung. So muss der richtige Patient, mit geeigneten Informationen, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, mit dem richtigen Arzt und der geeigneten Versorgungskapazität zusammenkommen. Klassischerweise wird dazu ein Terminkalender verwendet, in den ein Mitarbeiter nach telefonischer Vereinbarung einen Termin einträgt. Je nach Institution erscheint anschließend der Patient zu seinem Termin, wird von Station abgerufen, oder – im schlechtesten Fall – alle Patienten für eine Maßnahme werden gleichzeitig bestellt und warten bis die ärztliche Kapazität vorhanden ist. Gibt es eine zeitliche Abweichung vom geplanten Termin (weil beispielsweise ein Patient ausfällt, mehr oder weniger Zeit beansprucht) wird dies in der Regel über den Pool der Wartezeit ausgeglichen.
Ein möglicher Ansatz zur Verbesserung der Terminfindung, am Beispiel des Prämedikationsgesprächs in der Anästhesie, wäre die Nutzung eines digitalen Kalenders, der automatisch freie Zeitfenster auf einem Online-Interface darstellt. Die Terminierung könnte ohne Mitarbeiter oder unmittelbar durch eine andere Abteilung erfolgen. Es könnten Feedback- und Erinnerungsfunktionen integriert werden und eine automatisierte Anpassung bei Verzögerungen durch das Vorziehen anderer Termine erfolgen. Checklisten zur Terminvorbereitung könnten genutzt werden, um Störfaktoren im Vorfeld zu identifizieren und zu reduzieren. Auf diese Weise könnte auch eine Vordokumentation von Formularen von zuhause aus möglich sein. Genauso könnten notwendige medizinische Dokumente wie Medikationspläne, Patientenverfügungen, Arztbriefe und Untersuchungsergebnisse bereits im Vorfeld beschafft werden. Workflows und automatisierte Feedbackschleifen könnten bei z.B. fehlenden Untersuchungsbefunden zur Vereinfachung genutzt werden.
Um diesen Prozess effizienter zu gestalten, müssten jedoch bestimmte Aspekte reevaluiert werden. Beispielsweise die Notwendigkeit eines bestehenden Gesprächsrahmens vor Ort. Oder die Möglichkeit, Störfaktoren im Vorfeld zu identifizieren und zu reduzieren. Durch konsequente Umsetzung und Nutzung dieser Verbesserungen könnte die individuelle Wartezeit und damit verbundene Frustration auf Seiten von Patienten und Ärzten mit der Folge einer verbesserten Interaktion der Beteiligten reduziert werden.
- Dokumentation
Der Bereich der medizinischen Dokumentation bietet verschiedene Möglichkeiten zur Optimierung. Eine Möglichkeit ist die automatisierte Übertragung und Dokumentation von Messparametern und Laborergebnissen, um den Dokumentationsaufwand insgesamt zu reduzieren. Oder der Zugriff auf Systeme wie z.B. Spracherkennung mit dem Ziel beschleunigter Dokumentation. Besonders effektiv wird dies bei der Integration von verschiedenen medizinischen Geräten und Applikationen in ein gemeinsames System. Zudem können durch standardisierte Systeme und die Verwendung von Vorlagen Qualität und Effizienz der Dokumentation verbessert werden. Die meisten bestehenden Systeme weisen jedoch eine hohe Redundanz und schlechte Dokumentationsqualität auf. Im Transfer von der Papierdokumentationen in elektronische Systeme wurden oft etablierte Klassifikationssysteme und Verfahren eins zu eins übernommen. Beispielsweise wird der gleiche Inhalt in ein Textfeld auf dem Bildschirm eingegeben wie zuvor handschriftlich auf dem Papierbogen. Aufgrund der meist fehlenden Platzbeschränkung können zwar vermeintlich mehr Informationen dokumentiert werden, allerdings mit der Folge, dass diese wesentlich weniger fokussiert und relevant dokumentiert werden. Insgesamt können durch durchdachte (teil-)automatisierte Dokumentationssysteme der zeitliche Aufwand reduziert und gleichzeitig die Qualität gesteigert werden.
- Informationsaustausch
In der Medizin werden häufig Papierdokumente wie Arztbriefe, Rezepte oder Laborbefunde verwendet, um Informationen zwischen verschiedenen Institutionen des Gesundheitssystems auszutauschen. Diese werden üblicherweise dem Patienten ausgehändigt, per Post oder Fax versandt oder telefonisch übermittelt. Bereits in den 1970er Jahren wurde die erste elektronische Patientenakte entwickelt, um wichtige Informationen zu speichern (22). Mittlerweile gibt es diverse Lösungen zur elektronischen Bereitstellung von Informationen (z.B. die elektronische Patientenakte) bzw. telemedizinischen Anwendungen.
Obwohl entsprechende Technologien vorhanden sind (z.B. gibt es die elektronische Patientenakte seit dem 01. Januar 2021 (23)), werden sie noch nicht flächendeckend genutzt und ihre Umsetzung ist häufig schwierig. Einer der häufigsten Ablehnungsgründe sind Datenschutzbedenken. Dabei könnten digitale System z.B. durch ein Zugriffs-Logbuch sogar die Transparenz für den Einzelnen erhöhen. Darüber hinaus ermöglichen diese Systeme durch einen gemeinsamen Zugriff auf identische Informationen eine koordinierte, effizientere, kostengünstigere und sicherere Therapie für Patienten. Interessanterweise lehnen die wenigsten Patienten mit einem Behandlungswunsch eine Datenweitergabe für eine erhöhte Behandlungssicherheit zwischen den einzelnen Gesundheitsdienstleistern ab.
Eine weitere zu klärende Fragestellung ist die Form der Datenweitergabe. Ist beispielsweise der prosaische Text eines Arztbriefes über mehrere Seiten nützlich, oder gibt es auch hierfür alternative Möglichkeiten des strukturierten Informationstransfers (z.B. graphische Darstellungen von Datenclustern, Verlaufsdarstellungen, einheitliche Nutzung des bundeseinheitlichen Medikationsplan incl. QR-Code (24)...).
Qualität
Nachdem ein IT-System anhand von Algorithmen funktioniert, können diese helfen medizinische Prozesse effizienter zu gestalten und Fehler zu reduzieren. So werden Muster, Abweichungen oder Trends früher erkannt und diagnostiziert, wie beispielsweise eine kontinuierliche Verschlechterung der Nierenfunktion anhand von Laborparametern oder automatisierter radiologischer Beurteilung von Röntgenbildern. Gleichzeitig können auch die Einhaltung und Umsetzung von medizinischen Standards und Richtlinien (SOPs) automatisiert erfasst und beurteilt werden. Zur Unterstützung von kognitiven Prozessen, zur Fokussierung von Aufmerksamkeit, als Erinnerungshilfen und zur Problemlösung können „cognitive aids“ eine große Rolle Spielen. Sie umfassen eine Vielzahl an Formularen, Checklisten, Entscheidungsbäumen, Flowcharts oder Merkhilfen und sind insbesondere in kritischen Notfallsituationen mit einem hohen Stressfaktor von Bedeutung: z.B. Algorithmen zur Reanimation, Vorgehen bei einer Vielzahl an Patienten oder auch einfache Dosierungshilfen. Bislang werden diese meist auswendig gelernt oder in gedruckter Form eingesetzt. Eine digitale Umsetzung könnte jedoch durch eine höhere Fokussierung, mit beispielsweiser Darstellung nur eines einzelnen Entscheidungs-Knotens in einem Entscheidungsbaum, und eine höhere Sicherheit durch eine Reduktion an Verwechslungen von Informationen bieten. Allerdings erschwert die aktuelle Gesetzgebung im deutschen Rechtsraum die Entwicklung und insbesondere die Verbreitung von digitalen Lösungen als Medizinprodukte mit extrem hohen Aufwand hinsichtlich des Zulassungsprozesses.25Medizinische Forschung und Weiterentwicklung
Informationstechnologie bietet für die medizinische Forschung und Weiterbildung große Vorteile. Zum einen können systematisch gespeicherte Daten deutlich einfacher ausgewertet werden und präzisere Rückschlüsse bereits bei kleinen Effekten gezogen werden. Zum Anderen verändert sich schon heute das medizinische Wissen so schnell, dass es teilweise sehr schwierig ist hinsichtlich aller Aspekte auf dem aktuellen Stand zu bleiben. Auch hier könnten die Verwendung von „cognitive aids“ die Anwendungssicherheit erhöhen, indem man weniger davon abhängig wird, sich Wissen zu merken, als vielmehr zu Wissen wie man es abruft, anwendet und in einer emphatischen Interaktion an den Patienten bringt.
Der Titel des Artikels Eutopie26 bezieht sich nicht auf die medizinische Terminologie als regelrechter Organlage. Vielmehr wollte ich in Abgrenzung zur geläufigeren Utopie (von altgriechisch οὐ : „nicht“ und τόπος : „Ort“ also in übertragenem Sinne einem unmöglichen Ort bzw. Zukunftsvorstellung) bewusst von einer Eutopie (von altgriechisch εὖ : „gut“) sprechen, einem „guten Ort“ bzw. einer möglichen Zukunft. Im Rahmen dieses Artikels ist eine dezidierte Darstellung sämtlicher Probleme und digitaler Lösungsansätze nicht möglich. Ziel war es lediglich Ansatzpunkte darzustellen und eine Reflexion anzuregen: Die wichtigste Veränderung im Umgang mit moderner Informationstechnologie muss darin liegen zu begreifen, dass analoge Strukturen nicht allein dadurch moderner werden, wenn sie an einem PC umgesetzt werden und z.B. Informationen anstatt mit einem Stift mittels einer Tastatur in einem Textfeld dokumentiert werden.
Prozesse und Verfahren müssen neu gedacht, umgesetzt und entsprechende rechtliche Grundlagen geschaffen werden. Wobei Entwicklung nicht eine sterile Automatisierung, sondern mehr emphatische Interaktion zwischen Ärztinnen, Ärzten und Patienten ermöglichen soll.
Veränderungen sind nicht grundsätzlich schlecht.
Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege: Krankenhäuser in Bayern (Stand 07.05.2023)
Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege: Ambulante vertragsärztliche Versorgung (Stand 07.05.2023)
Bundesärztekammer: Ärztestatistik zum 31. Dezember 2021 (PDF, Stand 07.05.2023)
Marburger Bund: Monitor 2022 (PDF, Stand 07.05.2023)
Robert Bosch Stiftung: Gesundheitszentren für Deutschland, 2021 (Stand 07.05.2023)
Skär L, Söderberg S. Patients' complaints regarding healthcare encounters and communication. Nurs Open. 2018
Hanganu B, Ioan BG. The Personal and Professional Impact of Patients' Complaints on Doctors-A Qualitative Approach. Int J Environ Res Public Health. 2022
Heinz Nixdorf MuseumsForum: Abakus Suan-Pan (Stand 07.05.2023)
Jonas Martiny: Ramón Llulls Wahrheitsmaschine, 2018 (Stand 07.05.2023)
Arithmeum Universität Bonn: Pascaline (Stand 07.05.2023)
Lara Schwenner (Focus Online): Gottfried Wilhelm Leibniz Wegbereiter des Computers, 2016 (Stand 07.05.2023)
Heinz Nixdorf MuseumsForum: Herman Hollerith (Stand 07.05.2023)
Library of Congress: Samuel F.B. Morse Papers at the Library of Congress, 1793 to 1919 (Stand 07.05.2023)
Library of Congress: Telephone and Multiple Telegraph (Stand 07.05.2023)
History.com Guglielmo Marconi (Stand 07.05.2023)
History.com Who Invented Television? (Stand 07.05.2023)
Konrad Zuse Internet Archive: Z3 (Stand 07.05.2023)
National Museum of American History: Apple I Microcomputer (Stand 07.05.2023)
W3.org: Tim Berners-Lee (Stand 07.05.2023)
Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) § 630f Dokumentation der Behandlung (Stand 22.01.2023)
(Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (PDF, Stand 22.01.2023)
Institute of Medicine. Computer-Based Patient Record: An Essential Technology for Health Care. Washington, DC, 1991, The National Academies Press.
Bundesgesundheitsministerium: Elektronische Patientenakte (Stand 22.01.2023)
Kassenärztliche Bundesvereinigung: Medikationsplan (Stand 07.05.2023)
European Commission: Guidance on Qualification and Classification of Software in Regulation (EU) 2017/745 – MDR and Regulation (EU) 2017/746 – IVDR (PDF, Stand 07.05.2023)
Pschyrembel Online: Eutopie (Stand 07.05.2023)